Eben zwängt sich die aufgehende Sonne zwischen den Wolkenkratzern von Lower Manhattan durch, als wir noch etwas verschlafen den Anker lichten. In der einen Hand den dampfenden Kaffee, in der anderen den Fotoapparat nehmen wir bereits kurz nach sechs Uhr Abschied vom einmaligen Aussichtspunkt bei Ellis Island. Fast eine kleine Sünde, diesen wohl ungewöhnlichsten Ankerplatz im Big Apple zu verlassen und gerade heute, wo es ein strahlend schöner Tag zu werden verspricht. Ein letzter sehnsuchtsvoller Blick zurück, noch ein bisschen mit diesem elenden Blitz hadern und was er angerichtet hat, aber dann heisst es Blick voraus Richtung East River wo Dani eben unsere Vairea in den Morgenverkehr einfädelt.
Von links naht ein Ausflugsboot, das die ersten, wohl auch noch etwas verschlafenen Passagiere zur Freiheitsstatue fährt und rechts voraus nimmt eben eine knallorange Fähre Kurs auf Staten Island. Konzentration ist gefordert, denn ob diese Wasserfahrzeuge Rücksicht auf ein Schweizer Boot mit zwei etwas müden Seglern an Bord nehmen würden ist ungewiss. Beim Anblick der Wolkenkratzer auf der rechten Seite von Lower Manhattan und der unzähligen Brücken die sich über den East River spannen weicht aber schnell jede Müdigkeit und macht grosser Freude und Spannung Platz. Und gleich nach der ersten Kurve leuchtet sie im Gegenlicht, mein Brückenhighlight die Brooklyn Bridge. Ganz anders als damals bei der Chesapeake Brücke habe ich jetzt auf dem Weg nach Port Washington nie das Gefühl, dass es mit der Höhe knapp werden könnte.
Auf dem East River mitten durch den Big Apple
Und so kann ich die immer schneller werdende Fahrt Richtung Norden so richtig geniessen. Vom Steuerstand aus ruft mir der Captain immer neue Rekord Tempi zu, mit denen Vairea von der Strömung angetrieben durch das trübe Wasser saust. Hoffentlich komme ich trotz dieser Geschwindigkeit mit dem fotografieren nach, denn hier auf Höhe der 42. Strasse gilt es besonders auf Zack zu sein. Ein Highlight jagt das nächste, denn unmittelbar nach dem berühmten Empire State Building kommt der Chrysler Tower ins Blickfeld. Über dem Turm des Art Déco Baus ziehen Schäfchenwolken am stahlblauen Himmel und die Kuppel aus rostfreiem Stahl leuchtet in der Morgensonne, so richtig schurig schön. Der Anblick des UNO-Gebäudes dagegen ist gewöhnungsbedürftig. Die Hinteransicht wirkt fast etwas kalt und ohne die 193 Flaggen der Mitgliedsländer direkt nackt.
Je weiter wir vorankommen, je breiter wird der East River und New York verschwindet immer mehr im Kielwasser. Und nach dem wir den inneramerikanischen La Guardia Airport zur rechten Seite passiert haben, wird die Landschaft auch schlagartig ländlicher. Zum Teil herrschaftliche Villen anstelle von Hochhäusern und vor allem viel Grün säumen die Ufer beidseits des Flusses. Und schon ruft der Captain, dass wir den East River gleich verlassen werden, nach der nächsten Weggabelung liegt mit Port Washington unser heutiges Ziel. In der grossen Bucht schnappen wir eine der unzähligen gelben Bojen, machen Vairea dran fest und uns auf zu einem ersten Rundgang durch den kleinen und schmucken Ort mit der genialen Anbindung nach New York durch die Long Island Railroad. Es fühlt sich zwar immer noch unlogisch an, dass man eine Stadt verlassen muss um sie dann einfacher erreichen und erkunden zu können.
Port Washington
Aber die Lösung mit dem ländlichen Port Washington soll durchaus Sinn machen haben uns andere Segler berichtet. Nach Jahren endlich wieder einmal durch den Big Apple zu streifen, nachschauen was sich alles verändert hat oder was sich diese Stadt Neues hat einfallen lassen. Die Vorfreude darauf ist bei mir riesig. Zeitnah die Baustellen lösen und dann ab für ein paar Tage ins Hotel. So lautet unsere optimistische Vorstellung an diesem 10. Juli. Denn in der Umgebung einen Techniker finden, der die Blitz-Schäden aufnimmt, diese zuhanden der Versicherung rapportiert und dann fachmännisch repariert, kann ja kein allzu grosses Problem sein, denken wir. Doch weit gefehlt und Danis Erstaunen wächst mit jedem abschlägigen Telefonat. Wir kommen keinen Schritt weiter, entweder heisst es keine Zeit, keine Lust oder wir bekommen auch einfach keine Antwort. Das hätten wir hier so nie erwartet.
Das zweite Problem ist körperlich und schon etwas älter, aber duldet dann plötzlich keinen Aufschub mehr. Etwas gar blauäugig ging ich schon vor Wochen davon aus, dass es in New York am Einfachsten sein wird, den dringend benötigten Osteopathen für meine Genick- und Schulterschmerzen zu finden. Und ich finde auch tatsächlich den vermeintlich richtigen Therapeuten und ja, Dr. Weiss nimmt sich nächste Woche gerne Zeit für sie, bestätigt mir die freundliche Sprechstundenhilfe am Telefon. Da sehe ich mich in Gedanken doch schon von den Schmerzen befreit, genau bis sie mir den Tarif für eine Behandlung nennt: 685.00 Dollar!! Nein meint sie auf meine irritierte Rückfrage, ich habe mich nicht verhört. Die Kosten sind hier scheinbar normal und Dr. Weiss kein Einzelfall unter den unzähligen Therapeuten.
Urgent Care für Crew und Vairea
Ich bedanke mich, beherzige den guten Rat und spreche stattdessen in der Urgent Health Care Clinic von Port Washington vor. Der freundliche Dr. John hört sich noch am selben Tag meine Beschwerden an, macht sich ein Bild von meinen Problemen, diagnostiziert einen Bandscheibenvorfall im Genick und verschreibt mir Medikamente und Schmerzmittel. Skizziert den weiteren Verlauf, sollten diese wider Erwarten nicht den erwünschten Erfolg zeigen, wünscht mir gute Besserung und verlangt dafür 120.00 Dollar. Verrückte Welt. 24 Stunden später geht’s mir schon bedeutend besser. Ich bin sehr optimistisch, dass wir wenigstens diese Baustelle bald schliessen können. New York rückt in meinen Träumen wieder etwas näher, aber nur gerade ein paar Stunden lang.
Denn bei einer der üblichen Routinekontrollen verfinstert sich Danis Blick wie der Himmel vor einem Gewittersturm. Gar nicht gut, meint er als er aus dem Steuerbord-Motorraum kriecht, da ist Wasser im Öl. Klares Anzeichen dafür, dass die Dichtung des Saildrive leckt. Mit der Konsequenz, dass Vairea für die Behebung wohl zeitnah aus dem Wasser kommen muss. Und so nehme ich gedanklich wieder Abschied von New York, während Daniel noch versucht, eine Werft in der Nähe zu finden, die Katamarane herausnehmen- und einen Fachmann zu finden, der diese Reparatur ausführen kann. Zwar eine neue Baustelle aber mit dem gleichen, negativen Resultat. Es wird Dienstag und wir sind auch trotz vieler Hinweise und Tipps von anderen Seglern keinen Schritt weiter. Da hat mein Captain die Nase gestrichen voll und schlägt einen Unterbruch vor.
Auszeit im Big Apple
Die Variante schon morgen und für zwei Nächte nach New York zu fahren anstatt hier zu versauern, den Kopf etwas frei zu kriegen und anschliessend die Suche wieder zu aktivieren, begeistert mich total. Beim Anblick der günstigen Preise für die Übernachtung an zentraler Lage reibe ich mir die Hände. Da hat sich definitiv Erfreuliches getan gegenüber unserem letzten Besuch. Bereits 40 Minuten nach Abfahrt im ländlichen Port Washington steigen wir in der pulsierenden Penn Station aus dem Zug. Zuerst einen tiefen Lungenzug der russigen Stadtluft, bevor wir uns auf den Weg Richtung Lexington Avenue machen. Bezüglich schlechter Luft und Strassenlärm hat sich New York nicht verändert, stellen wir ziemlich schnell fest.
Das Gemälde hinter ihnen, das ist aber kein originaler Tapiés, frage ich beinahe etwas ungläubig die freundliche Rezeptionistin des Roger Smith Hotel. Aber klar doch, das ist ein Werk des spanischen Künstlers, bestätigt sie mir und freut sich ihrerseits, dass ich diesen katalanischen Maler und Bildhauer erkenne. An einem Ort zu nächtigen, wo ein Bild des Lieblingskünstlers meiner Mutter und mir hängt, das muss der perfekte Ort im Big Apple sein. Bei Dr. Smood direkt um die Ecke geniessen wir das Zitat „gesündeste Frühstück von New York“ bevor wir bewaffnet mit Stadtplan und viel Energie Richtung Grand Central Station los ziehen. Ich kanns kaum glauben. Da hat sich doch tatsächlich die Firma Apple im ersten Stock in einer der schönsten Bahnhofshallen der Welt eingenistet! Es geht definitiv nichts über die perfekteste oder ausgefallenste Location.
Whispering Arches in der Central Station
Im Untergeschoss, gleich rechts von der Oyster Bar stehen Dani und ich uns in den Whispering Arches gegenüber. Tatsächlich verstehen wir unsere zugeflüsterten Nachrichten trotz des riesigen Umgebungslärmes und der Entfernung zueinander. Ein absolut spezieller Ort, wo sogar schon ganz romantisch Heiratsanträge geflüstert worden sein sollen. Inmitten der vielen Wolkenkratzer wirkt die St. Patricks Kathedrale fast verloren und eher klein. Doch einmal drinnen in diesem wunderschönen Gotteshaus, spürt und erlebt man seine unglaubliche Grösse und Höhe. Mich begeistern vor allem die unzähligen Glasfenster mit dieser enormen Farbenpracht.
Gleich gegenüber im Rockefeller Plaza werden im Lego-Flagshipstore Kinderträume wahr. Wir können es kaum glauben, was alles aus diesen farbigen Plastiksteinen gebaut werden kann. Ob ein gelbes New York Taxi in Originalgrösse, die Freiheitsstatue oder die Brooklyn Bridge, nichts scheint unmöglich. Sobald er grösser ist, dann besuchen wir diesen Ort nochmal mit unserem Enkel, beschliessen wir. Schatten suchend schleichen wir an der Radio Music Hall Richtung Broadway. Es ist später Nachmittag geworden und das Thermometer zeigt weit über 30 Grad an. Der Schweiss rinnt und unser Wasserverbrauch steigt ins Endlose, denn in den engen Strassenschluchten und auf dem Asphalt sind es gefühlte 50 Grad. Der sonst so geschäftige und pulsierende Times Square wirkt fast leer. Vielleicht verirren sich aber zu später Stunde und angenehmeren Temperaturen mehr Leute hierhin.
Beyond Sushi
Nach einer mehr als nötigen und vor allem sehr erfrischenden Dusche geniessen wir den Sonnenuntergang bei einem feinen Drink in Elsies Bar, einer der unzähligen hypen Rooftop-Lokalitäten der Stadt. Völlig überbewertet lautet unser ernüchterndes Fazit, bevor wir uns auf die Suche nach einem passenden Dinner-Lokal machen. Der Sinn steht uns nach japanischer Kost und wie praktisch, dass sich das „Beyond Sushi“ gleich in der Nähe befindet. Kurz vor halb zehn Uhr huschen wir noch schnell hinein. Wir staunen, wie gut das Lokal zu dieser Uhrzeit und kurz vor Schliessung besetzt ist. Hätten wir zuvor über die Bezeichnung beyond nachgedacht, dann wäre uns eine Überraschung erspart geblieben. Wir befinden uns doch tatsächlich in DEM veganen Trendlokal von New York!
Während ich das Konzept faszinierend und die Gerichte saulecker finde, verschluckt sich Dani vor Schreck fast an einer Rüebli-Gurken-Rolle. Kurzfristig erhellt sich das Gesicht meines armen Mannes, als er meint, auf einer seiner Rollen Lachsstreifen entdeckt zu haben. Doch bei näherer Betrachtung entpuppen sich diese als adrett geschnittene, profane Kohlblätter. Ich hoffe für ihn, dass wenigstens der Nachtisch punkten kann. Aber auch der vegane Cheesecake kann meinem Desserttiger nur ein müdes Lächeln entlocken. Ungelogen, direkt noch am Tisch ruft er im Keen’s Steakhouse an und reserviert für den folgenden Abend einen Tisch.
Der Big Apple von oben
Auf der Westseite von Manhattan wächst das Hudson Yard Quartier, ein Triumph von Kultur, Kommerz und Küche steht im Reiseführer. Dort befinden sich auch die neusten Attraktionen der Stadt und dorthin zieht es uns anderntags bereits kurz nach 9 Uhr. Bei herrlichem Sonnenschein geht’s mit einem ultraschnellen Lift hinauf, in den 100. Stock des seit 2020 eröffneten Wolkenkratzers. Vermutlich nicht alltäglich, dass wir Beide alleine im Aufzug fahren können. The Edge bietet eine noch nie dagewesene, dank Glasfenstern freie Aussicht über den Big Apple! Aber der absolute Thriller dabei ist, dass die 24 Meter grosse Plattform im freien Fall hinaus ragt. Und ganz Mutige können auf einem eingelassenen Glasboden 100 Meter tief hinunter schauen oder sich an die schrägen Fenster lehnen.
Genau das Richtige für Adrenalinjunkies wie wir es sind, zumal wir uns dieses einmalige Erlebnis an diesem Morgen mit nur etwa 50 Personen teilen müssen. Gleich nebenan steht das seit März 2019 eröffnete „The Vessel“. Eine faszinierende, glänzende Stahlstruktur, die auf 45 Meter Höhe erklommen werden kann. Die Meinungen, ob es sich bei diesem Gebilde um Design, Kunst oder einfach um ein überdimensioniertes Treppenhaus handelt, gehen wie immer bei Kunstinstallationen weit auseinander. Wir sind auf dem 2500 Treppenstufen langen Weg nach oben zwar etwas ausser Atem aber komplett von den Socken, wie sich die Sicht sowohl gegen innen und wie gegen aussen immer wieder verändert. Ziel bei dieser Attraktion ist aber nicht wie bei einem Wolkenkratzer die Aussicht von oben, sondern das Bauwerk an sich sowie die sich immer wieder verändernden Blickwinkel darauf.
Hitzetag im Big Apple
Wie schon am Vortag kraxelt das Thermometer unbarmherzig nach oben. Abhilfe gegen den drohenden Hitzestau schafft wohl am besten eine Fahrt mit der Fähre hinüber nach Long Island, sind wir überzeugt. Mit einer dieser kostenlosen, grossen und orangen Fähren geht’s vorbei an „unserem“ ehemaligen Ankerplatz und der Freiheitsstatue Richtung New Jersey. Für ganz viele ist die Fahrt die perfekte und vor allem unentgeltliche Alternative zu den teuren Rundfahrten. Die meisten nehmen daher gleich wieder die nächste Fähre zurück nach Manhattan. Wir aber schauen zuerst noch schnell im Nike-Outlet gleich beim Fähranleger vorbei. Für die rauchenden Sneakers besorgen wir uns sicherheitshalber ein Paar Reserve-Turnschuhe. Kurz vor Sonnenuntergang stehen wir frisch geduscht, aufgehübscht und mit knurrendem Magen vor dem Fleischtempel.
Wir haben das Keen’s Steakhouse vor über 12 Jahren mehr durch Zufall entdeckt und waren damals von der 1A-Fleischqualität, dem Interieur und dem perfekten Service völlig begeistert. Ob das heute wohl immer noch so ist, fragen wir uns gespannt, als uns eine nette Angestellte zum Tisch bringt. Wir finden alles genauso vor wie damals. Die über 50‘000 tönernen Schaumpfeiffen an der Decke, die etwas altertümliche Einrichtung, den absolut professionellen Service und am allerwichtigsten, die Qualität des Porterhouse-Steaks! Zwei Stunden Schlemmerorgie später lehnt sich ein pappsater Captain im Stuhl zurück, geniesst den letzten Schluck Single Malt Whisky und strahlt selig über alle vier Backen. Ich kann mir die Frage schenken, in welcher Lokalität es ihm besser gemundet hat.
Warnung vor schweren Gewittern
Bereits auf dem dringend nötigen Verdauungsspaziergang zurück ins Hotel poppen wiederholt Warnmeldungen auf unseren Handys auf. Für den späteren Samstagmittag warnen die Meteorologen für die Region rund um New York vor Gewittern, Sturm und sinnflutartigem Regen. Bitte nicht schon wieder, stöhnen wir. Für Beide ist klar, dass ein Verweilen bei solchen Voraussagen unvernünftig wäre. So besteigen wir am folgenden Morgen bereits um kurz nach acht anstatt am Nachmittag den Zug zurück nach Port Washington. Die Sturmfront hat dann zu unserer grossen Erleichterung zwar eine andere Richtung genommen, aber wir haben nicht etwa über entgangene Stunden im Big Apple gehadert. Denn wie erhofft konnten wir unsere Köpfe so richtig durchlüften, gedanklich abschalten. Jetzt sind wir mit vollem Elan und viel Zuversicht wieder bereit, die Baustellen in Angriff zu nehmen.
Aus dem veganen Restaurant heraus einen Tisch im Steakhouse bestellen – ich hab mich schlapp gelacht! Und kann es doch vollkommen verstehen. Hätte es wohl genauso gemacht…..
Noch nie war die Lust auf ein saftiges Stück Fleisch grösser als an diesem Abend. Echte Männer verstehen dies…